24.12.2008

Wenn der „Kleine" dem Kleinen eins drübergibt

Ungleiches Brüderpaar Sijaric / Wohnung mit „Verkehrs-Schildern"
Aus Bosnien geflohen, in Waldbröl aufgewachsen, im Siegerland zu Hause.

geo. Man muss schon zweimal hinhören, um zu verstehen, wenn Mirza Sijaric über das Verhältnis zu seinem Bruder Alen erzählt: „Nach dem Training oder nach einem Spiel kriegt der Kleine von mir bei der Rückfahrt schon mal einen drüber!" Dazu muss man wissen, dass besagter Alen Sijaric, Mittelmann beim Handball-Regionalligisten TuS Ferndorf seinen Bruder fast um Kopfesgröße überragt, mitnichten also kleiner ist. Dafür aber elf Monate jünger, was Bruder Mirja schon ein wenig das Recht gibt, von Alen als dem „Kleinen" in der Familie zu sprechen. Die beiden Handball-Deutschen, deren Biografie wie viele in diesem Land auch von dramatischen Kriegserlebnissen geprägt ist, sind die „Speerspitze" der „Bergischen Enklave" in den Reihen des TuS Ferndorf und haben sich auch ins Herz des gerade Fremden gegenüber durchaus kritischen TuS-Publikums gespielt.

Dabei sind die beiden Sijaric-Brüder vom Naturell her grundverschieden. Linksaußen Mirza gibt eher den Ton an, ist der Extrovertierte, was auch sein emotional geprägtes Handballspiel, seine Bissigkeit in der Abwehr und seine spektakulären Kamikaze-Attacken beim Torwurf erahnen lassen - darüber spricht man gerne und oft. Der 23-jährige Alen Sijaric ist dagegen der ruhende Pol, ein stiller, bedächtiger Typ. Solche haben es im Leben anfangs schwerer, kommen dann aber „gewaltig". So auch Alen Sijaric, der in dieser Saison ausgerechnet in der 3. Liga den Durchbruch schaffte, was aber auch am Verletzungspech des Stamm-Mittelspielers Michael Lerscht liegt.

„Das war und ist bei mir eine Kopfsache. Mit der Umgebung hier, mit den Ansprüchen, mit der tollen Kulisse - da bin ich lange nicht so richtig klar gekommen. Außerdem bin ich auch immer wieder zurück geworfen worden", sagt Alen Sijaric und denkt zum Beispiel an den katastrophalen Unfall vor fast zwei Jahren zurück, als er sich nach einer Wohnungsrenovierung bei einem Freund bei einem Verkehrsunfall eine schlimme Schädelbeinfraktur zuzog. In dieser Saison bremste ihn gleich wieder eine Schulterverletzung, erlitten im Auftaktspiel gegen Rheinhausen, aus. Doch im Herbst steigerte er sich kontinuierlich, warf sehenswerte Tore und ist auch im Team mehr anerkannt.

Aus Kriegs-Unglück wurde Heimat-Glück
Das Unglück der Stadt Banja Luka - es war gewissermaßen das Glück der Fa­milie Sijaric, denn obwohl nach Ende der Kriegswirren auf dem Balkan viele Flüchtlingsfamilien zurück in ihre Hei­mat mussten, durfte die Familie Sijaric, die über mehrere Stationen in Deutsch­land Zuflucht in Waldbröl gefunden hat­te, bleiben. Das einst überwiegend mus­limische Banja Luka im Norden von Bosnien und Herzegowina war vor dem Kriegsausbruch zur Teilrepublik Sprpska innerhalb des Staatsgebietes von Bosnien und Herzegowina erklärt worden, was nach dem Friedensabkommen von Dayton noch heute Bestand hat. Aufgrund ethnischer Säuberungen, die sich hauptsächlich gegen bosnische Muslime richteten, ergriff auch die Fa­milie Sijaric Ende 1992 die Flucht aus Banja Luka. Da es für sie kein friedvolles, sicheres Zurück in die mittlerweile von bosnischen Serben beherrschte Stadt gab, durften sie bleiben. Im Alter von zehn bzw. acht Jahren kamen die Brüder zum Handball und spielten mit kurzer Unterbrechung beim CVJM Waldbröl. Ein Treffen in einer Eisdiele in Bergneustadt änderte dann ihr ganzes Leben. Uli Pohl, Trainer und Jugendleiter aus Derschlag, holte die Brüder in die „U 21"'des VfL Gummersbach, die in der Landesliga (u. a. auch mit Maik Pallach) spielte. Später bildete man eine Spielgemeinschaft mit Bergneustadt in der Oberliga. Dort spielten die Sijarics zusammen mit Tim Hilger und Dennis Aust. Als die SG auseinander brach, knüpfte Pohl dank Verbindungen zu Harald Münker den Kontakt zum TuS Ferndorf. Das lag nahe, weil die Brüder mittlerweile in Siegen studierten.

Und irgendwie haben alle früher schon mal zusammen gespielt: auch Maik Pallach, Tim Hilger, Dennis Aust und Timo Blanz. Und dann sagt Mirza Sijaric einen Satz, der angesichts der dokumentierten Strenge von Trainer Caslav Dincic ein wenig überrascht. „Wir Spieler wollen schon ein bisschen mitbestimmen, wer zu uns passt und wer zu uns kommt!"

Das Ergebnis dieser „Mitbestimmung light" kann sich aber offensichtlich sehen lassen: „Wir sind in Ferndorf eine Supergemeinschaft, und deshalb steckt auch ein Riesen-Potenzial in unserer Truppe." Damit könne man auch körperliche Nachtei­le gegenüber stark rückraumfixierten Teams ausgleichen, meint Mirza. Überhaupt Dincic: von Geburt Serbe. Die beiden Sijarics sind zwar in Montenegro zur Welt gekommen, doch schon früh fand ihr Vater, ein Physiker, einen Job im bosnischen Banja Luka. Ob diese ethnische Konstellation nicht unterschwelliges Konfliktpotenzial berge? „Überhaupt nicht", sagt Mirza und erklärt: „Caslav ist mit uns sogar ein bisschen strenger. Aber nur deshalb, weil er nicht will, dass man ihm vorwirft, seine Landsleute' zu bevorzugen."

Und dass häufige Auswechseln empfinden auch die beiden Sijaric-Brüder nicht als Nachteil oder gar Affront des Trainers: „In gewissem Sinne nimmt er uns dadurch auch in Schutz, erklärt uns die Fehler und gibt uns dann die Chance, uns neu zu beweisen. So merken wir auch im Training, dass wir immer ein Stück kompletter werden", macht sich auch Alen Sijaric zum Fürsprecher des TuS-Coaches. Ohnehin glauben die beiden Brüder, dass das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht ist: „Unser Umfeld beim TuS ist jetzt schon zweitliga-tauglich, die Organisation, das Publikum, der Trainerstab. Aber jetzt ist erst einmal die 3. Liga unser Nahziel."

Wie lange die beiden bosnischen Muslime noch in Ferndorf spielen, ist ohnehin ungewiss. Mirza studiert an der Uni Siegen im 8. Semester Betriebswirtschaftslehre, Bruder Alen im 5. Semester Bauingenieurwesen. Beide sprechen akzentfrei deutsch und nur bei ihren Eltern noch in der Muttersprache. Sie leben direkt unterhalb der Universität in einer gemeinsamen Wohnung. Ob es da nicht schon mal Komplikationen bei weiblichem Besuch gebe, wollten wir natürlich wissen: „Nee, nee", schmunzelt Mirza, „das ist klar geregelt, dafür hängen extra Schilder in der Wohnung." Verkehrs-Schilder sozusagen.