13.09.2010

Drei Jahre ist Ferndorf tabu

FERNDORF. Schreiner-Geselle Florian Stöcker tippelt seit Samstag durch die Welt. Der 23 jährige Ferndorfer möchte auf seiner Walz bis nach Indien gelangen - und auch den Bootsbau erlernen.

nja • Samstag, kurz nach 12 Uhr: Florian Stöcker, in die traditionelle Handwerkskluft gekleidet, erklimmt das Ortsausgangsschild von Ferndorf. Nur über dieses Hindernis führt der Weg in die große weite Welt. Eltern und Freunde dürfen das Schild nicht passieren. Sie bleiben in Ferndorf zurück. Ohne nochmals das Haupt zu wenden, ohne einen weiteren Blick zurück, begibt sich der 23-Jährige auf die Wanderschaft, genauer gesagt auf die Walz, besser noch: die Tippelei. Und dies nach heutigen Planungen für drei Jahre und einen Tag.

Begleitet wird er, zumindest auf den ersten Kilometern, von Wandergesellen. Sie hatten am Abend zuvor schon zünftig miteinander gefeiert, stimmen Samstagmittag ein aufmunterndes Lied an: „Drum, Brüder, lasst uns scheiden...". Doch auch dies kann nicht bei allen, die zurück bleiben, verhindern, dass Tränen fließen.

Was bewegt einen jungen Menschen im 21. Jahrhundert zu einem solchen mutigen Abenteuer? Was wird ihn erwarten - und welche Hoffnungen knüpft er an die kommenden Monate und Jahre? Hat Florian Stöcker doch für diese spezielle Zeit der Fortbildung einen fristlosen Vertrag mit seinem Arbeitgeber, einer Schreinerei in Hildesheim, wo er auch seine Ausbildung absolviert hatte, gekündigt!

„Ich möchte mich vor allem in den drei Jahren weiterbilden", erzählt der Ferndorfer im SZ-Gespräch. Schließlich wird er unterwegs immer wieder bei potenziellen Arbeitgebern nach Beschäftigung fragen, und so gewiss in viele unterschiedliche Arbeitsfelder des Schreinerhandwerks Einblicke gewinnen. Wohin die „berufliche Reise" seines Lebens im Idealfall einmal führen soll, das weiß der ehemalige Kreuztaler Gymnasiast auch schon: „Mich interessiert vor allem der Bootsbau. Ich hoffe, unterwegs auch in Werften reinschnuppern zu können. Mein Traum ist, mir einmal mein eigenes Boot zu bauen." Hierfür möchte er auch internationale Erfahrungen sammeln.

Doch zurück zur Realität: Freitagabend schon wurde es ernst für den jungen Ferndorfer, der im Schacht" der Freien Vogtländer Deutschlands tippeln wird (siehe gesonderten Information unten). Zum so genannten „Losbringen" gehört nämlich auch das An-den-Tisch Nageln" - in dessen Verlauf der Wandergeselle zum Ohrringträger wird. Das klingt martialisch - und ist es wohl auch. Dies wurde am Freitagabend bei der Abschiedsfeier zu fortgeschrittener Stunde vollzogen. Den Stenz in der Hand, sein Bündel mit der Zweitkluft und einigen Hygieneartikeln gepackt sowie 5 Euro in der Hosentasche - mehr als dieses Startkapital darf er auch nicht wieder heimbringen - so startet Florian Stöcker am Samstag seine Wanderschaft u. a. in Begleitung „seines Altreisenden", Raphael Möhrle, der schon über ein Jahr tippelt und den Ferndorfer während der ersten drei Monate unter seine Fittiche nimmt. „Die Jacke ist mein Büro", sagt Florian. Wichtigstes Accessoire aber wird sein Wanderbuch sein, in dem er Arbeitszeugnisse seiner Einsätze sammeln wird.

Findet er unterwegs Arbeit, wird er nach Tarif bezahlt. Schaut er in den Rathäusern dieser Republik vorbei, lässt er sich das Stadtsiegel in sein Tippelbüchlein geben, in dem auch die Arbeitszeugnisse des Reisenden dokumentiert werden. Grundsätzlich darf er für seine Fortbewegung nichts bezahlen. Wird Florian also zunächst zu Fuß unterwegs sein, so erfreut sich auch das Trampen auf der Walz großer Beliebtheit. Erst nach Ablauf eines Jahres darf er den deutschsprachigen Raum verlassen: Dann lockt neben Indien auch Südamerika. Auch dort werden Boote gebaut. Wie aber gelangt er dort hin? Florian kann sich u. a. vorstellen, auf einem Schiff anzuheuern und für die Überfahrt zu arbeiten.

Welche Voraussetzungen aber müssen erbracht werden, wenn man tippeln möchte? „Die Gesellen müssen schuldenfrei, ohne Vorstrafen und besitzlos sein, ledig und kinderlos, dürfen nicht älter als 30 Jahre sein und müssen den Gesellenbrief besitzen", weiß Florian Stöcker. Der Besitz eines Handys ist verboten, eine Mailadresse aber darf er pflegen. Schlafen wird er in Herbergen, bei Arbeitgebern, in Buden - das sind feste Treffpunkte der Schächte - in Kolpinghäusern und gerne auch mal unter freiem Himmel.

Der Umkreis von 50 Kilometern um Ferndorf ist für ihn die sogenannte Bannmeile. Hierher darf er in den kommenden drei Jahren nicht zurückkehren. Eine Ausnahme von dieser Regel gibt es: Allein, wenn sich in seiner Familie ein Todesfall ereignet hat, darf der Wandergeselle den Bannkreis betreten. Es ist dem unternehmungslustigen Ferndorfer zu wünschen, dass er sie niemals in Anspruch nehmen muss!

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Von Schächten und der Ehrbarkeit
> Die Wanderschaft war seit dem Spätmittelalter bis zur beginnenden Indus­trialisierung eine der Voraussetzungen für den Gesellen, die Prüfung zum Meister zu beginnen. Die Gesellen sollten vor allem neue Arbeitspraktiken, Lebenserfahrung und fremde Orte, Regionen und Länder kennenlernen. Ein Handwerker, der sich auf dieser traditionellen Wanderschaft befindet, wird als Fremdgeschriebener oder Fremder bezeichnet.

> Mit Schacht wird eine Vereinigung von Handwerkern (überwiegend Bauhandwerker) bezeichnet, die auf Wanderschaft sind oder waren. Diese Handwerkervereinigungen haben meist keine rechtliche Form, bestehen aber teilweise schon seit mehreren Jahrhunderten.

> Die Gesellschaft der Freien Vogtländer, der auch Florian Stöcker angehört, ist einer von sieben Schächten in Deutschland. Auffallendes Kennzeichen der Vogtländer-Kluft: Zwei Knöpfe am Jackett-Revers, sechs Knöpfe am Hosenschlag, die V-förmig angeordnet sind und eine Nadel, die goldene Ehrbarkeit, am eingeschlagenen Hemdkragen.

> Das Abzeichen findet sich auch auf dem Charlottenburger wieder, dem Bündel, in dem die zweite Kleidergarnitur transportiert wird.