01.06.2010

„Ein Stück Ferndorf verloren“

Monika Wendt schließt ihr „Nähkästchen“
61-jährige Textilhandel-Ära endet im Juli

„Mein Herz hat mir etwas anderes gesagt als mein Verstand.“

ckl ♦ Bei Monika Wendt sitzt jeder Handgriff. Nahezu alle Wünsche erfüllt sie ihren Kunden in Sekundenschnelle. Links von ihr die Stoffreste, Schnallen, Borden, Spitzen. Rechts die meterlangen Qualitätsstoffe. Vorne Flicken, Schulterpolster, Stoffbänder, Nähmaschinen-Zubehör. Hinter ihr hunderte von Knöpfen, fein säuberlich in transparenten Plastikröhren einsortiert. In Wendt‘s Nähkästchen hat alles seine Ordnung; mustergültig nach Farbtönen sortiert – seit 26 Jahren.

Monika Wendt kennt hier jeden Quadratzentimeter. „Außer meiner Familie, bedeutet mir der Laden alles“, sagt sie. Und dennoch sind die Handgriffe der 61-Jährigen im Ferndorfer „Nähkästchen“ gezählt. „Räumungsverkauf“ steht in großen, weißen Buchstaben auf einem roten Hintergrund am Schaufenster in der Marburger Straße 161 geschrieben: Im Juli schließt der Textilfachhandel, dessen Ursprünge bis ins Jahr 1949 zurückreichen – die Ära nimmt ein Ende.

„Damit geht ein Stück Ferndorf verloren“, sagt Else Bald betrübt. Seit 52 Jahren lebt die Seniorin bereits in Ferndorf. Sie erinnert sich: „So lange ich denken kann, ist dieser Laden schon hier.“ Unzählige Male nimmt Else Bald die Dienste von Monika Wendt und deren Mitarbeiterin Rosita Hofacker in Anspruch. „Wenn der Laden jetzt weg ist, ist hier gar nichts mehr. Jetzt muss ich wegen eines Reißverschlusses nach Kredenbach fahren. Das ist doch absurd“, sagt sie und spricht damit vielen treuen Kunden des „Nähkästchens“ aus dem Herzen. „Mir selbst tut das ja auch sehr leid“, betont Monika Wendt. Doch unter anderem aus gesundheitlichen Gründen hat sie sich zu diesem Schritt entschließen müssen. „Mein Herz hat mir etwas anderes gesagt als mein Verstand“, erklärt die Ferndorferin, die den Laden mit einem lachenden und einem weinenden Auge schließt. Ein Trost: Die Ladenräume bleiben in Familienhand. Die Wendts-Söhne Thomas und Stefan werden sie für ihre eigenen Geschäftszwecke nutzen.

In Ferndorf ist das „Nähkästchen“ heute noch besser unter dem Namen „Angstes“ bekannt. „Da go mer morje no Angstes“, heißt es hier schon seit nunmehr 61 Jahren. Damals eröffnet Willi Angst, der Vater von Monika Wendt, den Textilfachhandel unter dem Namen „Textilhaus E. Angst“. Benannt nach seiner Frau Elisabeth, die bereits seit 1947 einen eigenen Schneiderei-Meisterbetrieb in der Marburger Straße führt und diesen um ein Geschäft erweitern will. „Schon als ich noch zur Schule ging, habe ich im Laden mitgeholfen. Dafür durfte ich mir nebenan dann immer ein Bällchen Eis für zehn Pfennig kaufen“, erinnert sich Monika Wendt heute noch gerne an die ersten Jahre des Textilfachhandels zurück. So ist es für sie 1968 auch selbstverständlich, nach dem frühen Tod ihres Vaters den elterlichen Betrieb zu übernehmen. „Das habe ich liebend gerne gemacht. Ich mag den Laden schon immer“, sagt Monika Wendt, die das Textilhaus im Jahr 1984 nach einer sechsjährigen Mutterschaftspause unter dem Namen „Wendt‘s Nähkästchen“ neu eröffnet.

Viele schöne Erinnerungen verbindet sie mit ihrem „Nähkästchen“. Etwas Bestimmtes möchte die passionierte Schneiderin jedoch nicht hervorheben. „Das Schönste war es für mich immer, wenn meine Kunden zufrieden waren“, sagt die bescheidene Ladeninhaberin. Sehr wohl erinnert sich Monika Wendt jedoch auch an schwierige Tage zurück.

Im Jahr 1998 steht der Textilfachhandel kurz vor dem Ruin. Ein Jahr lang vertreibt eine Baustelle direkt vor dem „Nähkästchen“ die Kundschaft. „Da habe ich 60 Prozent Verlust gemacht. Wenn das Haus nicht mein Eigentum gewesen wäre, hätte ich den Laden geschlossen“, blickt Monika Wendt mit Schrecken an diese Tage zurück. Nur wenige Monate später der nächste Schock: Ein Hochwasser dringt in die Kellerräume des Geschäfts ein. Viele Stoffe sind nicht mehr zu gebrauchen – ein Gesamtschaden in Höhe von 10 000 Mark. Doch Monika Wendt übersteht alle Strapazen: durch die Liebe zur Arbeit, zu ihrem Laden und zu den Kunden. Diese Liebe ist bis heute ungebrochen. Und genau aus diesem Grund kann die 61-Jährige auch zukünftig Nadel und Faden nicht bei Seite legen. „In meiner Damenschneiderei werde ich nach wie vor weiterarbeiten“, verspricht sie. „Allerdings wird sie nur noch über den Seiteneingang zu erreichen sein.“

Zwar verliert Ferndorf somit ein Traditionsgeschäft und ein Stück Geschichte. Doch Monika Wendt bleibt dem 4000-Einwohner-Ort in Kreuztal erhalten.