23.01.2010

Hilfseinsatz begann nach einer langen Zeitreise

Ferndorf/Papua Dr. Dieter Stracke aus Ferndorf, Mediziner im Ruhestand, half als „Arzt ohne Grenzen“ den vergessenen Menschen im Gebirge Papuas

Der Ferndorfer Chirurg lernte bei seinem Hilfseinsatz eine faszinierend-fremde Kultur kennen.

Visite in der Zeltstation: Der in Ferndorf lebende Mediziner 
Dr. Dieter Stracke kümmerte sich um die schwierigen Fälle
 – Patienten mit Abszessen und schlimmen Verletzungen.

nja ♦ Ihn erwarte eine „Reise in die Steinzeit“ – dies wurde Dr. Dieter Stracke von Ortskundigen prognostiziert, als er über sein Vorhaben sprach, auf Initiative der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ (Médecins sans frontières, kurz MSF), auf Papua-Neuguinea, genauer gesagt in den Western Highlands Papuas, kranken Menschen zu helfen. Von September bis Dezember erfuhr der Chirurg, der bis 2000 Chefarzt am ev. Krankenhaus Kredenbach und anschließend bis 2005 als Medizin-Controller in der Verwaltung der damaligen Diakonie im Siegerland gGmbH tätig gewesen war, dass der Hinweis auf eine spannende Zeitreise nicht aus der Luft gegriffen war.

An den Küsten des Inselstaats Papua-Neuguinea sei die Zivilisation schon lange angekommen, berichtete er im SZ-Gespräch. Doch im Landesinneren, in den zerklüfteten Bergregionen, dort, wo jedes Dorf noch eine eigenständige Kultur pflege, dort fehle es eigentlich an allem. An Verkehrsinfrastruktur, an zentraler Wasser- und Energieversorgung. Und auch an medizinischer Grundversorgung. Genau dort setzt die Initiative der Ärzte ohne Grenzen an, für die Dr. Stracke nach Einsätzen in Darfur, Liberia und Sri Lanka nunmehr zum vierten Mal ehrenamtlich aktiv wurde.

MSF leistet eigenen Angaben zufolge in Ländern medizinische Nothilfe, in denen die Gesundheitsstrukturen zusammengebrochen sind oder Bevölkerungsgruppen unzureichend versorgt werden. Zu den Aktivitäten zählen Wiederaufbau und Inbetriebnahme von Krankenhäusern oder Gesundheitszentren, mobiler Kliniken zur Versorgung von ländlichen Gebieten, Impfprogramme, die medizinische Versorgung in Flüchtlingslagern, psychologische Betreuung, der Aufbau von Ernährungszentren, Wasser- und Sanitärprojekte sowie die Gesundheitsversorgung von besonders gefährdeten Gruppen. In den Western Highlands Papuas ist MSF seit 2008 präsent. In der 6000 Einwohner zählenden „Stadt“ Tari, 1600 m hoch fern der Zivilisation gelegen und eigentlich nur per Flugzeug erreichbar, wurde ein rudimentär vorhandenes Krankenhaus – dort gab es zuvor keine Ärzte mehr, sondern nur noch Pflegepersonal – ausgebaut. Dort trat der Ferndorfer Arzt seinen Dienst an.

Die Aufgaben, vor die sich der 66-Jährige dort gestellt sah, standen in direktem Zusammenhang mit den klimatischen und hygienischen Bedingungen, aber auch mit dem kulturellen Eigenleben der Bergregionbewohner. „70 Prozent meiner Arbeitszeit habe ich mich um die Heilung von Abszessen, insbesondere an Händen und Füßen, gekümmert“, erzählte Dieter Stracke. Was er dabei zu sehen bekommen habe, sei auch für ihn neu gewesen. Infektionen durch das stete Barfußlaufen oder verursacht von Splittern und Dornen in den Händen galt es zu behandeln. Mangelernährung führe zu Abwehrschwächen und insbesondere bei Kindern im Verbund mit Infektionen zu Knochenentzündungen. Traditionelle Behandlungsmethoden, z. B. mit Kräutern, seien den Menschen in den abgeschiedenen Bergdörfern nicht bekannt. So musste schlimmstenfalls zum lebensrettenden Mittel der Amputation gegriffen werden.

Drei- bis viermal pro Woche kümmerte sich Dr. Dieter Stracke zudem um Verbrennungsopfer. Feuerstellen würden, zum einen aufgrund fehlender Elektrizität, zum anderen mit Blick auf die kalten Nachttemperaturen, überall und rund um die Uhr betrieben. „Da passiert es nicht selten, dass ein Kind beim Spielen ins offene Feuer fällt.“

Ein alltägliches Thema in der Abgeschiedenheit der landschaftlich wunderschönen Western Highlands: Gewalt. Unter familiärer Eskalation leiden zu 95 Prozent die Frauen, sagte Dr. Stracke mit Blick auf eine extreme Macho-Gesellschaft. Doch auch die vielen Dörfer untereinander sind sich alles andere als grün. Krieg steht auf der Tagesordnung, die Anlässe für den Ausbruch brutaler Gewalt sind für Europäer nicht nachvollziehbar. Mal geht es um Grenzfragen, ein anderes Mal um Persönliches wie „Kompensationszahlungen“ nach dem Tod einer Frau aus Dorf A, die in Dorf B eingeheiratet hatte. Oder aber ein Sohn ist der Meinung, seine Mutter habe das Essen zu spät serviert. Gewalt, so hat Dr. Stracke erfahren, ist dort ein tradiertes Mittel der Kommunikation.

Eskaliert der Streit, so kommen „Pfeil und Bogen, uralte Schrotflinten, selbstgebastelte Gewehre oder auch lange Buschmesser“ zum Einsatz, berichtete der Ferndorfer Chirurg, der sich sodann, zehn- bis 15mal pro Woche, um die entsprechenden Verletzungen kümmern musste. Die Patienten nähmen tagelang dauernde Fußmärsche auf sich, um die Klinik zu erreichen – wenn verfeindete Einwohner ihnen unterwegs nicht das Passieren ihres Dorfes untersagen. Die „Buschtrommeln“ funktionieren in der Abgeschiedenheit der zerklüfteten Bergregion offenkundig gut. Im Handmdrehen habe sich z. B. herumgesprochen, dass nach zwei Wochen Vakanz der Ärzteposten mit ihm wieder besetzt worden sei, erinnerte sich der Mediziner. Dies habe sich umgehend in der Anzahl der Hilfesuchenden widergespiegelt.

Ist das Wort „Infrastruktur“ in den Western Highlands auch ein Fremdwort, so hat doch zumindest ein Statussymbol der Zivilisation tatsächlich den Weg in die „Steinzeit“ gefunden: So könne es passieren, erzählte Dr. Stracke schmunzelnd, dass ein Bergbewohner – nur in einen Bastrock gekleidet mit einem Pfeil, quer durch die Nase gestochen, geschmückt – auf dem Weg durch Tari per Handy kommuniziere...

Neben den sichtbaren Wunden kümmert sich das MSF-Team aber auch um die unsichtbaren Verletzungen: Durch die Gewalterfahrung(en) traumatisierten Patienten steht eine Psychologin zur Seite, wenn dies erwünscht ist. Das Geschehene wird aufgearbeitet, und es wird auch der Versuch unternommen, Wege zu einer gewaltfreien Konfliktlösung aufzuzeigen. Ein Angebot, das aber – noch – keine dauerhaften Spuren im Miteinander zu hinterlassen scheint.

Dr. Stracke hat bei seinen MSF-Einsätzen schon diverse Krisen kennengelernt. In Darfur war es eine politische, in Liberia erlebte er einer Phase der Nachkrise, des Wiederaufbaus, Sri Lanka befand sich gerade im Kriegszustand. In Papua nun lernte der Siegerländer eine medizinisch-soziale Krise kennen und half bei deren Bewältigung. Ziel von MSF ist es auch, die Menschen in den Krisenregionen anzuleiten, damit sie sich im Idealfall eigenständig, autark helfen können. Versuche, einen Einheimischen aus Papua-Neuguinea zum Arzt auszubilden, sind bislang jedoch komplett gescheitert: Es wurde kein Freiwilliger gefunden. Mögliche Gründe hierfür: Das Einzugsgebiet der Klinik erstreckt sich über einen Umkreis von 150 schwer zugänglichen Kilometern mit rund 300 000 Einwohnern. Die 25 chirurgische Betten umfassende Klinik war zu Strackes Zeit zu 200 Prozent belegt. Das nächste Krankenhaus befindet sich sechs Autostunden über holperige Pisten entfernt.

So werden die Ureinwohner der vergessenen Bergregionen wohl noch länger auf engagierte Menschen wie Dr. Dieter Stracke hoffen müssen – und dürfen. MSF bleibt vorerst in Tari präsent. Neben den zahlreichen verwirrenden Eindrücken von dieser (Zeit)-Reise bleiben dem Ferndorfer auch viele schöne Erinnerungen. An die hervorragende Kooperation im internationalen MSF-Team. An wunderbare Begegnungen mit den trotz ihres offensichtlich fest im kulturellen Bewusstsein verankerten Hangs zur gewalttätigen Konfliktlösung auch fröhlichen, freundlichen Menschen. Und auch an die atemberaubend schöne Landschaft, die zu erleben jedoch im Klinikalltag nicht viel Zeit blieb. Dr. Stracke zog diesbezüglich für sich persönlich folgendes Fazit: Er habe sicherlich nur kleine Einblicke gewonnen. Diese aber hätten große Begeisterung ausgelöst. Doch im Fokus stand etwas anderes: Die Sorge um Menschen in Not.