24.03.2012

Menü aus Noten und Salat

Wo man singt, da lass dich ruhig nieder; böse Menschen haben keine Lieder.

ph I "Weiß 3', ruft jemand in die Runde. An den rustikalen Holztischen werden weiße Liederbüchlein aufgeschlagen und schon geht's los. "Diesen Weg auf den Höhen bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder...'. Aus rund 120 Kehlen erschallt das Rennsteig-Lied, Thüringens heimliche Nationalhymne, hoch über den Tälern des nördlichen Siegerlands; auf dem Kindelsberg.

Wirtshaussingen nennt sich das klangliche Spektakel mit hohem Spaßfaktor, das vor wenigen Tagen zum geschätzten 21. Mal über die imaginäre Bühne ging. Zwanglos verlief der Abend, aber nicht stromlos. Erstmals hatten die Freizeit-Musikanten Werner Becker und Hermann Bäumer Lautsprecher und Mikrofone aufgestellt, damit jeder in den beiden Gaststuben mithören und -machen konnte.

Das Grundprinzip ist denkbar simpel; Jeder, der Lust hat am Singen, kann dabei sein - solange der Platz reicht. Noten und Salat ergeben hier keinen Notensalat, sondem ein ebenso unterhaltsames wie vergnügliches Menü aus Heimat-, Volks-, Wander- und Fahrtenliedem im Kreise Gleichgesinnter. Anfangs, vor zehn Jahren, kehrte ein kleiner Freundeskreis, bestehend aus einigen wanderfreudigen Ehepaaren, im Gasthof Nies in Helberhausen ein. Als es später dort zu eng wurde, wich die wachsende Schar in die Kindelsberg-Raststätte aus. Im wörtlichen wie im übertragenen Sinne ging es also stetig bergauf.

Eingestielt hat das Wirtshaussingen Wemer Becker, in Kreuztal wohlbekannt als Lehrer (i. R.) der Grundschule Kredenbach ebenso wie als Kommunalpolitiker oder als Ehrenvorsitzender des Blasorchesters Stadt Kreuztal. Im Bayerischen Fernsehen hatte sich der aus Fellinghausen stammende Langenauer damals eine Sendung angeschaut, in der ein Mann mit Gitarre in einer Gaststätte das Publikum unterhielt. Das Ganze nannte sich, klar doch, Wirtshaussingen. „So was könnte man hier doch auch mal machen“, dachte sich der 64-Jährige. Eine Idee war geboren. Wandern, Gesang und Geselligkeit - diese drei Komponenten bilden seither das Erfolgsgeheimnis. Wenn das Ambiente stimmt, macht's einfach Spaß". Macht’s auch Sinn? Aber ja doch! Für Werner Becker und Hermann Bäumer trägt die Veranstaltung dazu bei, "die Freude am Alltagssingen zu fördem“ - und dies in denkbar ungezwungener Atmosphäre. Mit Gitarren und Ziehharmonika geben die beiden Musikanten als „primi inter pares“ (Erste unter Gleichen) Takt und Ton an.

Dabei versteht sich das Duo selbst keineswegs als Filzhut tragende Entertainer, geschweige denn als gagenhungrige Unterhaltungskapelle. Es gibt keine festen Vorgaben oder Reihenfolgen. Jeder kann sich einbringen. Nur das Auftaktlied ist in aller Regel "gesetzt“: Weiß 3, das Rennsteiglied. Auch der Fellinghausener Hermann Baumer ist am Fuße des Kindelsbergs kein Unbekannter. Früher spielte der 66-jährige in der 1. Handball-Mannschaft des TuS Femdorf. 

Die meisten Wirtshaussänger und -sängerinnen wohnen rund um Kindelsberg und Martinshardt. Aber auch darüber hinaus hat sich dieser ungewöhnliche „Brauch“ inzwischen herumgesprochen. Entsprechend mehren sich die Anfragen. Wessen E-Mail—Adresse bekannt ist, der wird zeitnah über den nächsten Event informiert. Danach gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Längst genießt das gemütliche Wirtshaussingen Kultstatus. Unkompliziert, unbefangen und unverfälscht geht es zur Sache. So um die 50 Lieder machen an einem Abend die Bunde. Zur Textsicherheit tragen die Liederhefte im handlichen Taschenformat bei. Vier Stück in unterschiedlicher Farbgebung - weiß, gelb, rot, grün - stehen mittlerweile zur Verfügung. Da kann der große Feierabend-Chor, der eigentlich ja gar kein Chor ist und sein will, aus dem Vollen schöpfen.

Die buntgemischte Sangesschar setzt sich laut Werner Becker überwiegend aus der Ü 50-Generation zusammen. Doch tauchen immer mal wieder auch Jüngere auf. Manchmal rein zufällig. So erinnert sich Jutta Walpersdorf vom mitsingenden Kindelsberg-Personal an drei junge Burschen, die dort einkehrten, mit dem Wirtshaussingen an sich aber nichts am Hut hatten. Entgegen allen Erwartungen liehen sie sich nach kurzer Zeit die Liedersammlung aus und machten eifrig mit. Beim jüngsten Termin drückten die elfjährige Leia und der achtjährige Luke den Altersdurchschnitt nach iuiten. Ein gutes Zeichen, dass auch in Zukunft volkstümliches Liedgut durch heimische Wirtshausstuben schallen dürfte.