11.08.2014

Emotionale Heimkehr nach 47 Monaten auf der Walz

Schreiner-Geselle Florian Stöcker „kletterte“ zurück in seine Ferndorfer Heimat /Allein rund 7000 km legte er während seiner Tippeiei zu Fuß zurück

„Ich habe auf der Walz gelernt: Irgendwie geht es immer weiter. “

nja I Als Florian Stöcker am späten Samstagnachmittag das Ortseingangsschild Ferndorfs erklommen und es sich auf dem wackeligen Blech einigermaßen bequem gemacht hatte, stand ihm die Rührung ins Gesicht geschrieben: Knapp vier Jahre Wanderschaft lagen hinter dem 27-jährigen Schreiner-Gesellen - Jahre, in denen er seiner Heimat nicht näher als 50 km kommen durfte - Jahre des Lernens und eine Zeit, in der Freundschaften fürs Leben entstanden sein dürften. Gemeinsam mit einigen seiner Weggefährten näherte er sich im sogenannten Spinnergang - im Gänsemarsch und beide Fahrbahnen der B 508 zwischen Kredenbach und Ferndorf in Anspruch nehmend - den vielen Verwandten und Freunden, die seine Rückkehr mit Freude und Anspannung herbeisehnten.

Einer Tradition folgend hieß es, Ferndorf auf die gleiche Weise zu betreten wie er es im September 2010 verlassen hatte - nur in umgekehrter Richtung natürlich: Nach dem Erklimmen des Ortseingangsschilds und den Momenten des Innehaltens und Genießens fiel der erste Bodenkontakt mit Ferndorf unerwartet unsanft aus, wobei das Verb in diesem Fall mit Bedacht gewählt ist und in gleich doppeltem Wortsinn zutraf... Florian Stöcker rappelte sich sodann auf - und schloss seine Lieben in die Arme. Tage des allmählichen Ankommens standen an; von Samstag bis heute hatte die Familie die Dorfhütte in Irlenhecken gemietet. Eine „lustige Tanzveranstaltung mit Sejerlänner Spezialitäten” war geplant worden - auch für das Willkommens-Komitee aus nah und fern.

Drei, vier Mal hatte er seine Familie in den vergangenen 47 Monaten persönlich getroffen - die Eltern feierten ihre Silberhochzeit eigens an der Mosel und nicht an der Femdorf, ab und an wurde telefoniert; Gesellen auf der Walz dürfen allerdings kein Handy besitzen. Entsprechend emotional fiel nun das Wiedersehen aus.

Vor knapp vier Jahren also brach der damals 23-jährige Schreiner-Geselle auf, um fern der Heimat sein Handwerk zu erproben und zu verfeinern, neue berufliche Herausforderungen anzunehmen, die sich jenseits der Walz wohl nie bieten würden, um Länder zu erkunden, Menschen kennenzulernen. All diese Wünsche, so zeigte sich rasch während seines Besuchs in der Kreuztaler SZ-Redaktion, haben sich eindeutig erfüllt. Als er seinerzeit das Ferndorfer Ortsausgangsschild überklettert hatte und - den Blick zurück vermeidend - im Bunde befreundeter Gesellen in die große weite Welt aufbrach, passte sein Hab und Gut in ein Tuch, das er am hölzernen Stenz mit sich trug: Eine zweite Kluft, Wäsche zum Wechseln, Hygieneartikel, 50 norwegische Kronen im Wert von 5 Euro - und zwei Kladden: ein offizielles Tippelbuch, in dem sich nunmehr rund 350 Stadtsiegel und 16 handschriftliche Arbeitszeugnisse aus aller Welt wiederfinden, und ein privates Tagebuch, in das der mittlerweile 27-Jährige Fotos klebte und seine Erlebnisse niedergeschrieben hat. Und mit eben jenen „Besitztümern”, das eine oder andere Textil wurde natürlich derweil ersetzt, kehrte er am Samstag also zurück. Ein wichtiges Kapitel seines Lebens ist somit zwar abgeschlossen, wirkt aber sicherlich ein Leben lang nach. In weiten Teilen Europas hat er nach Arbeit gesucht und sie auch gefunden; meist war er zwar in Deutschland unterwegs, doch hat er auch Dänemark, Norwegen, Holland, die Schweiz, Österreich, Frankreich, Belgien und, last but not least, Brasilien unter die Sohlen bekommen.

Über Siegen kam er am Freitagnachmittag in Kreuztal an, wo er sich bei Bürgermeister Walter Kiß das letzte Stadtsiegel „zünftig erbat”. Begleitet wurde er auf der letzten Tour, die in Mainz startete, von einer immer weiter anwachsenden Gruppe befreundeter Gesellen, darunter auch sein „Altreisender” Raphael Möhrle, der ihn vor knapp vier Jahren während der Anfangswochen gewissermaßen unter seine Fittiche genommen hatte, und seine Freundin Wibke Müller. Wo er die letzte Nacht schlafen werde? Ferndorf, wo seine Eltern und Großeltern leben, war schließlich nur noch einen Katzensprung entfernt und doch noch unerreichbar: Ob es noch die überdachten Holzbärıke beim Schulzentrum gebe, wollte der Weitgereiste wissen. Das sei doch ein eine trockene Nacht verheißendes Quartier... Wer rund 7000 km zu Fuß („Ich bin gern getippelt") und schätzungsweise 100 000 km trampend zurückgelegt, unter freiem Himmel, in Gesellenbuden, bei Arbeitgebern und auf Schiffen genächtigt hat - vier Jahre lang immer zu Gast war, kein eigenes Bett für beanspruchen konnte - der ist nicht zimperlich.

Viele neue (berufliche) Eindrücke bringt Florian Stöcker mit, die ihm sicherlich auch im neuen Lebensabschnitt zugutekommen werden. Ab September besucht er zwei Jahre lang in Hildesheim die Meisterschule, um als Holzgestalter und Schreiner seinen Meister zu machen. Seine Freundin, sie wird Holztechnikerin, war ebenfalls auf Walz und wird den neuen Lebensabschnitt mit ihm beginnen. Das schönste Projekt der 47 Monate sei wohl die Restaurierung einer rund 100 Jahre alten vergammelten und von Schimmelpilz befallenen Hochzeitskutsche in Ostfriesland gewesen: eine Gemeinschaftsarbeit mit zwei weiteren Tippel-Gesellen, berichtet er. Das war im Winter; Unterkunft fanden Florian Stöcker und seine Mitstreiter beim Auftraggeber, der auch Ferienwohnungen vermietet. „Bei dieser Arbeit konnten wir uns handwerklich so richtig auslassen", schwärmt der Ferndorfer. „Jeder von uns hat rund 500 Arbeitsstunden eingebracht. ‚Das dürfte im „normalen“ Handwerkeralltag wohl wirtschaftlich nicht darstellbar sein.' Generell gilt für Gesellen auf der Walz: Bezahlt werden sie nach Tarif, um nicht in Konkurrenz mit Handwerkern vor Ort zu treten. Doch lassen sich natürlich auch Kost und Logis anrechnen. Und: Für die Fortbewegung darf nicht bezahlt werden.

Wie aber gelangte Florian Stöcker dann nach Brasilien? Er „heuerte" auf einem Frachtschiff an - „dem größten Kühlschiff für Lebensmittelflüssigkeiten" Nachdem er „zünftig angefragt” hatte mitreisen zu dürfen und die Zusage nicht lange auf sich warten ließ, verhalf er den Reisenden auf dem Schiff unterwegs zu neuen, schönen und praktischen Möbeln. In Hamburg bestieg er den 15 Jahre alten Nachbau eines alten russischen Zarenschiffs, dem er zu einer neuen Sitzgarnitur verhalf.

Vor vier Jahren hatte er den Wunsch gehegt, Erfahrungen im Schiffbau zu sammeln. Ist daraus etwas geworden? „Nein”, sagt Florian Stöcker ohne Bedauern: „Man braucht keine Ziele auf Wanderschaft. Die Walz ist ein Selbstläufer.“ Vieles werde vom Zufall bestimmt: Auf welche Menschen treffe ich? Welche Arbeit fällt gerade an? Als Tippel-Geselle ist ein hohes Maß an Flexibilität gefragt. Kamen ihm unterwegs auch Zweifel an dem Unterfangen Walz, das ja mindestens drei Jahre und einen Tag andauern muss? „Natürlich", räumt Florian Stöcker, Mitglied der Gesellschaft der Freien Vogtländer, ein. „Man sagt: Auf Wanderschaft erlebt man hohe Höhen und tiefe Tiefs." Einmal habe er mit Freunden an der Isar seinen Schlafsack ausgerollt; mitten in der Nacht aber sei der Fluss über die Ufer getreten. Die Folge: Das gesamte Hab und Gut war pitschenass: „Da fragt man sich schon: Was mache ich hier eigentlich?"

Doch seien es auch Situationen wie diese, die den bleibenden Wert der Tippelei ausmachten: „lch habe immer wieder gelernt: Irgendwie geht es immer weiter. Man darf nur den Kopf nicht in den Sand stecken." Schließlich solle die Walz ja auch auf die Selbstständigkeit vorbereiten. Dabei werde es sicherlich auch Momente geben, die vielleicht zunächst ausweglos erschienen - es aber nicht seien. Nach den Regeln der Zunft zu reisen, das bedeutet u. a., rechtschaffen und ehrbar aufzutreten - ein Vorbild zu sein. Wanderschaft lasse sich nicht verallgemeinern: „Jeder macht seine eigene Reise - in unendlicher Freiheit nach zünftigen Regeln." Dass die Tippelei Jahrhunderte lang überlebt habe, liege daran, dass diese Tradition nicht staubtrocken und festgefahren sei, sondern sich weiterentwickele. Das Ende sehe er mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ein eigenes Bett, eigene vier Wände: Auch das hat seinen Reiz...