14.05.2014

Nachkriegsjahre im nördlichen Siegerland

Kindheitserinnerungen an Hamstern, Mannheimer und Plumsklo

"So ganz verstanden wir die Welt nicht mehr"

Der 2. Weltkrieg war zu Ende. Deutschland lag in Trümmern.

Auch Ferndorf war am 18. März 1945 noch bombardiert worden.

sz ■ Dies geschah kaum drei Wochen vor dem Einmarsch der ersten amerikani­schen Truppen. Diesen Bombenangriff der amerikanischen Flieger werde ich nie ver­gessen. Mein Spielkamerad Günther und seine Familie kamen dabei ums Leben, und mit ihnen starben fast vierzig weitere Dorfbewohner.

Nun aber bestimmte die Besatzungsmacht die neue Ordnung, die für uns in den ersten Wochen ziemlich chaotisch war. Auch wir Kinder, die kurz vor dem Krieg oder zu Anfang des Krieges geboren waren, merkten, dass sich vieles geändert hatte. Von einem Tag zum anderen gab es die bisherigen Autoritäten nicht mehr. Die Hitlerbilder, Fahnen und Uniformen wa­ren verschwunden. Keine Hitlerjugend, kein Jungvolk war mehr auf den Straßen zu sehen. Alles, an das wir bisher geglaubt hatten, aber auch alles, das uns so lange in Angst und Schrecken versetzt hatte, war plötzlich vorbei. So ganz verstanden wir die Welt nicht mehr.

Die Nachkriegszeit war für die Men­schen im Dorf eine harte Zeit. Viele Frauen, die „Kriegerwitwen", hatten ihre Männer verloren, ihre Kinder die Väter, die sie meist nur von einem kurzen Front­urlaub oder aus „Feldpostbriefen" kann­ten. Viele Soldaten wurden vermisst. Falls sie noch lebten, waren sie in Gefangen­schaft geraten, und man hoffte, dass sie ei­nes Tages wieder nach Hause kommen würden. Mein Vater kam beim deutschen Rück­zug aus der Ukraine mit einem der letzten Marinefährprahme (Landungsboote) nach Rumänien, wurde nach weiteren Rück­zugskämpfen bei Kriegsende schließlich in Österreich von amerikanischen Truppen gefangen genommen und in ein Lager nach Bayern gebracht. Von dort kehrte er im Spätsommer 1945 nach Hause zurück. Viele andere Familien hatten ein solches Glück nicht, und dann standen die Frauen alleine vor dem Problem, wie sie ihre Familien ernähren sollten.

Die Lebensmittelversorgung war schlecht und viele bekamen nicht genü­gend zu essen. Von der Besatzungsmacht wurden Lebensmittelkarten an die Bevöl­kerung ausgegeben und die Nahrungsmengen, je nach Vorrat und Schwere der Arbeit, wöchentlich neu festgelegt. Die Reichsmark, unser Geld, hatte allen Wert verloren. Was blieb den Menschen ande­res übrig, als in überfüllten Eisenbahnzü­gen in ländliche Gegenden zu fahren und auf Bauernhöfen wertvolle Dinge aus ih­rem persönlichen Besitz gegen dringend benötigte Lebensmittel wie Kartoffeln, Butter, Mehl, Eier und, wenn man Glück hatte, Wurst und Speck zu tauschen. „Hamstern" nannte man diesen Teil des damals blühenden „Schwarzhandels"; das war natürlich verboten, und bei den häufi­gen Kontrollen wurde den Menschen, meist den Frauen, oftmals alles, das sie mühsam erhandelt hatten, wieder abge­nommen.

Meine Mutter und ich waren, wie viele andere aus dem Dorf, oft in den Wäldern der Umgebung unterwegs, um Beeren, Bucheckern und Hagebutten zu sammeln, einfach alles, was die Natur so zu unserer Ernährung beitragen konnte. Wer Feld oder Garten hatte, dem ging es etwas bes­ser. Allerdings wurde manches Mal schon vorher von Unbefugten geerntet, was die Menschen so gesetzt oder gesät hatten, und deshalb stellten manche an ihren Grundstücken Schilder auf: „Vorsicht Selbstschüsse!" Mein Vater pflanzte in unserem Garten auch Tabak an. Die kleinen Setzlinge ka­men aus der Gegend um Mannheim, des­halb wurde der Tabak Marke „Eigenbau" auch „Mannheimer" genannt. Die gereif­ten Blätter wurden auf Schnüren gezogen, zum Trocknen aufgehängt und später im Küchenherd meiner Mutter fermentiert. Es stank furchtbar, wenn mein Vater das Zeug in der Pfeife rauchte. Auf dem „schwarzen Markt" war es ein begehrter Handelsartikel.

Die Wälder waren wie aufgeräumt. Kein Stückchen Holz lag herum. Wurzelstöcke wurden mit Flaschenzügen aus dem Boden heraus gerissen, da sie ein gutes Brand­holz abgaben. Selbst Tannenzapfen wur­den gesammelt, getrocknet und im Ofen verbrannt. Alles Verwertbare wurde ge­nutzt. Das Gras an den Feld- und Wegrai­nen wurde gemäht und als Viehfutter ver­wendet. Fast alle Familien im Dorf hielten Kar­nickel zur Versorgung mit Fleisch. Meine Kaninchen, die ich vorzugsweise mit Lö­wenzahn gefüttert hatte, wurden ge­schlachtet und kamen als Hasenbraten auf den Tisch. Obwohl ich immer Hunger hatte, fiel es mir schwer, davon zu essen. Selbst Pferdeäpfel waren begehrt als Dün­ger für den Garten. Mit Kehrblech und Be­sen versuchte jeder, als erster an den noch dampfenden Pferdemist zu kommen.

Wie schon unsere Eltern vor dem Kriege wuchsen wir Kinder ohne großen Komfort auf. Auch im Winter wuschen wir uns mit kaltem Wasser. Samstags wurde in einer Zinkwanne in der Küche gebadet. Wasserklosetts gab es nur vereinzelt. Die meisten Leute hatten ein „Plumpsklo" im Stall oder außerhalb des Hauses in der Nähe des Misthaufens. Im Frühjahr wurde die Jauche im Fass von einem Fuhrmann auf die Felder gefahren und im Garten mit einer Jauchekelle verteilt, die oft aus ei­nem Stahlhelm hergestellt und an einer Bohnenstange befestigt war. Der Herd in der Küche war im Winter meist die einzige Feuerstelle im Haus. Das Wohnzimmer, falls vorhanden, wurde nur an Fest- und Feiertagen mit einem Ofen geheizt. Im Schlafzimmer waren die Fens­ter während der ganzen Frostperiode mit Eisblumen bedeckt. Wenn man nach drau­ßen sehen wollte, musste man ein Loch hinein hauchen. In die eiskalten Betten legte man abends eine Wärmflasche oder einen im Backofen angeheizten Ziegel­stein.

Im Frühjahr 1946 wurde ich einge­schult. Gleich am ersten Schultag bekam ich noch in der Klasse fürchterliche Bauchschmerzen. Die Diagnose des Arz­tes: vereiterte Blinddarmentzündung. Ich erinnere mich noch heute gut daran, wie ich mit meiner Mutter im Omnibus nach Dahlbruch zur Stellbrink-Klinik gefahren bin, das Bettzeug auf dem Schoß; das musste man damals ins Krankenhaus mit­bringen.

In meiner Klasse waren sechzig Kinder. Unsere Lehrkräfte, zumeist ältere "Fräu­leins", verstanden es, mit einen immer griffbereit liegenden Stock für Diszipün zu sorgen. Schreibhefte gab es anfangs nicht zu kaufen. Wir benutzten Schiefertafel, Griffel und Schwämmchen. Während mei­ner gesamten Schulzeit wurde niemals über den Krieg oder über den Nationalso­zialismus gesprochen. Diese Zeit wurde ausgeblendet. Der Geschichtsunterricht endete später irgendwo bei Bismarck und dem alten Kaiser Wilhelm.

Immerzu hatten wir Hunger, wir waren alle unterernährt. In der Schule bekamen wir „Quäker-Speise", so benannt nach die­ser frommen amerikanischen Sekte, die Lebensmittel für notleidende Kinder stif­tete. Aus einem großen Kübel wurden ge­kochte braune Bohnen verteilt oder, was ich lieber aß, Milchsuppe mit Nudeln. Dazu gab es manchmal eine Handvoll Kekse aus US-Heeresbeständen, die in großen viereckigen Blechkisten angelie­fert wurden. Wir aßen diese Quäker-Speise aus alten Konservendosen, die wir mit einem Henkel aus Draht versehen hat­ten, oder aus Wehrmachts-Kochgeschir­ren.

Während der Sommerferien mussten wir Schulkinder im Wald Fingerhut- und Himbeerblätter sammeln, die auf dem Speicher getrocknet und nach den Ferien in Säcken mit in die Schule gebracht wur­den. Aus den Blättern wurde angeblich Arznei hergestellt. Oftmals musste meine Schulklasse auch auf den Feldern Kartof­felkäfer von den Sträuchern ablesen, die damals wohl eine rechte Plage für die Landwirtschaft waren.

Kartoffeln wurden, an heutigen Ver­hältnissen gemessen, in großen Mengen eingekellert. Zum Mittagessen gab es ei­gentlich immer Kartoffeln, und was davon übrig blieb, bereitete man abends mit Zwiebeln und geringsten Mengen an Fett zu Bratkartoffeln. Bald war es einigen Leu­ten im Dorf wieder möglich, ein Schwein zu mästen, das im Winter geschlachtet wurde. Diese Schweine sollten möglichst viel Fett und fettes Fleisch liefern. Fett war seit zehn Jahren zur Mangelware gewor­den, und die Menschen hatten insbeson­dere Fett entbehrt und hungerten danach. Übergewichtige Menschen gab es so gut wie keine.

Langsam besserten sich die Zeiten. Durch den Wiederaufbau war genug Ar­beit vorhanden. Man lebte sparsam. In den Fabriken wurde im Dreischichtenbetrieb gearbeitet, jeweils achtundvierzig Stunden die Woche einschließlich samstags. Überstunden waren die Regel. Nach Feierabend gab es Arbeit im Stall, auf dem Feld oder im Hauberg. Die ersten neuen Häuser wurden meist in Eigenleistung ge­baut. Der sichtbare Wohlstand kam auch dem einfachen Arbeiter zugute. Wer flei­ßig war, konnte viel erreichen und gehörte schon bald zum sogenannten Mittelstand, der unsere junge Demokratie trug. Die Menschen schöpften wieder Hoffnung nach der schweren Zeit und waren mit ih­rem Leben zufrieden.

Heute, fast siebzig Jahre später, kann man das von vielen Menschen in unserer wohlhabenden Republik nicht mehr sa­gen. Die Wohlhabenden werden zwar im­mer reicher, doch der Mittelstand schrumpft, und die Menschen mit gerin­gem Einkommen fürchten um ihre Zu­kunft.

Ulrich Schmidt, Eiserfeld (früher Femdorf)